NZZ am Sonntag, 29. Dezember 2018

Mohammed bin Salman fühlt sich allmächtig, zu Hause und in der Welt. Eine Demonstration seiner Macht gab der saudische Kronprinz kürzlich am G-20-Gipfel in Buenos Aires. Er wusste, dass alle Welt auf ihn schauen würde. Es war das erste Mal, dass er sich der internationalen Öffentlichkeit zeigte, seit der Journalist Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul brutal getötet worden war. Laut dem US-Geheimdienst CIA ordnete bin Salman selbst die Tötung an. MBS, wie er genannt wird, begrüsste den russischen Präsidenten mit einem High Five. Die Bilder der lachenden Autokraten gingen um die Welt.

Wie man an die Macht kommt, weiss der 33-Jährige, ging es in seinem Leben doch nur um eine Frage: wie er Thronfolger werden könnte. Mohammed bin Salman ist Enkel des Staatsgründers Abdelaziz Al Saud, genannt Ibn Saud, und war damit möglicher Anwärter. Er wurde aber lange unterschätzt – insbesondere von seinen Mitbewerbern. Auch war er nicht auf dem Radar von Beobachtern, die vorauszusagen versuchten, welcher der Söhne und Enkel Ibn Sauds neuer König würde.

Zunächst sprach tatsächlich wenig für MBS. Als Teenager soll er viel Playstation gespielt haben. Auch entschied er sich nicht wie etwa ein älterer Halbbruder, fürs Studium an eine Eliteuni ins Ausland zu gehen. Er blieb in Riad, und es heisst, er habe an der König-Saud-Universität einen Bachelor in Jura abgeschlossen. Das war im Nachhinein ein kluger Schachzug, denn er konnte nahe bei seinem Vater bleiben, der damals als Gouverneur von Riad viel Einfluss hatte. Salman bin Abdulaziz Al Saud war eine Art Consigliere der Königsfamilie und schlichtete die Streitigkeiten unter Prinzen und Cliquen.

Vertrauen des Vaters

MBS wurde schon früh an der Seite seines Vaters in seinem öffentlichen Salon gesehen und schliesslich auch offiziell zu dessen Berater ernannt. Er hatte kaum ausländische Kontakte, er reiste selten ins Ausland, und er war sehr jung. Diese Mängel sind aber vielleicht das Geheimnis seines Erfolgs. Nach und nach gewann er das Vertrauen des Vaters, der viele Söhne von verschiedenen Frauen hat und somit auch andere Söhne gehabt hätte, die er im Rennen um die Thronfolge in der dritten Generation hätte bevorzugen können.

In der Zeit am Hof seines Vaters lernte MBS anscheinend auch mit anderen wichtigen Leuten der saudischen Gesellschaft umzugehen. Dabei half ihm auch die Abstammung mütterlicherseits. Sein Urgrossvater war der legendäre Führer der Ajman, eines Stammes, der nicht immer mit den Al Saud verbündet war.

Früh fing der Prinz auch an, mit zum Teil dubiosen Geschäften viel Geld zu machen. Im Königreich zirkuliert seit einiger Zeit das Gerücht, dass MBS vor einigen Jahren, als ihm ein Beamter bei einem Geschäft nicht helfen wollte, diesem eine Patronenhülse schicken liess. Eine unmissverständliche Geste. Der Besagte soll daraufhin sofort in das Geschäft eingewilligt haben, was MBS laut dem «New Yorker»-Magazin den Spitznamen Abu Rasasa, «Vater der Kugel», einbrachte. In jungen Jahren soll er saudische Geschäftsleute dazu ermutigt haben, manche sagen «gezwungen», in seinen Investmentfond zu investieren.

Ältere Prinzen, vor allem seine älteren Cousins und deren Vertraute und Geschäftspartner, sahen den jungen Prinzen als einen Emporkömmling, erkannten aber nicht die Gefahr, die von ihm für sie ausging. Als der Vater zum Kronprinzen ernannt wurde, wurde MBS zu seinem Stabschef. Und als Salman 2015 zum König ernannt wurde, wurde MBS sogleich nächster Kronprinz sowie Verteidigungsminister und übernahm die Kontrolle über die gesamte Wirtschaft, inklusive der Ölindustrie.

Schnell ging er vor allem gegen die Vertrauten des bisherigen Königs Abdullah vor, insbesondere dessen Stabschef Khalid al-Tuwaijri, der lange als einer der einflussreichsten Männer im Königreich galt. Starke Konkurrenten duldete MBS nicht.

Auch als Verteidigungsminister wollte er sich einen Namen machen: mit einem kurzen Krieg und einem glorreichen Sieg. Jemen schien so eine Möglichkeit zu bieten. Dort hatten 2014 die Huthi zusammen mit dem vormaligen Präsidenten Ali Abdallah Saleh die Macht in der Hauptstadt Sanaa übernommen. Die Interimsregierung, die zu diesem Zeitpunkt die Geschicke leitete, floh nach Saudiarabien und bat um Hilfe. MBS’ Militärberater schienen ihm einen kurzen, populären Krieg vorherzusagen, und die saudischen Verbündeten, vor allem die USA, Grossbritannien und Frankreich, schienen sich zumindest nicht stark dagegen auszusprechen. Dass den Huthi eine Nähe zum saudischen Erzfeind Iran nachgesagt wird, obschon oft übertrieben dargestellt, ist ein Grund dafür. MBS wollte nach diesem ruhmreichen Feldzug als neuer Führer die saudische Nation gegen innere und äussere Feinde einen, vor allem gegen die Muslimbrüder und gegen Iran.

Erst die globale Empörung über den Mord am Journalisten Khashoggi machte MBS einen Strich durch die Rechnung.

Es kam anders: Die Huthi kontrollieren Sanaa noch immer. Die saudischen und die mit ihnen kämpfenden emiratischen Truppen mussten früh Verluste hinnehmen. Der Krieg ist nicht mehr populär im Königreich – Dörfer an der Grenze zu Jemen wurden evakuiert, Grenzstädte regelmässig beschossen. Er hat MBS’ Image zu Hause schwer geschadet, kostet viel Geld und trägt zum Budgetdefizit bei. Andere aussenpolitische Unternehmungen von MBS, etwa die Isolation von Katar, das sich den Saudi nicht unterwerfen möchte, oder Vergeltungsaktionen gegen Kanada und Deutschland wegen kritischer Äusserungen von Politikern, gingen ebenfalls schief.

Mohammed bin Salman blieb trotz diesen Niederlagen an der Macht. International organisierte er 2017 eine riesige PR-Kampagne, die ihn als grossen Reformer präsentierte. Er kündigte an, dass er das Fahrverbot für Frauen abschaffen und sein Land wirtschaftlich reformieren werde. Seine “Vision 2030” scheint inspiriert zu sein von einer Studie des McKinsey Global Institute, die sich damit befasst, wie Saudi Arabien sich verändern muss, will es künftig weniger abhängig sein vom Öl.

Auf seiner Tour durch die USA traf sich MBS nicht nur mit dem Präsidenten, sondern auch mit den Chefs der grössten US-Firmen. Alle wollten ein Selfie mit dem arabischen Prinzen, der auch charmant auftreten kann. Über das Blutvergiessen in Jemen sah man grosszügig hinweg. Auch der Aufschrei von Menschenrechtsorganisationen blieb international folgenlos. Bin Salman liess Frauenrechtlerinnen, die sich für das Autofahren und Rechte eingesetzt hatten, im eigenen Land ins Gefängnis werfen, während er sich im Ausland als Reformer feiern liess.

Wenn MBS rief, kam die globale Wirtschaftselite. Auf der ersten grossen Investorenkonferenz, die 2017 im «Ritz-Carlton» in Riad stattfand, kamen alle. Als das Hotel einige Monate später in ein riesiges Gefängnis umfunktioniert wurde – bin Salman schaltete kurzerhand einen Grossteil der saudischen Wirtschaftselite und Konkurrenten in der Königsfamilie aus –, hagelte es zwar Kritik, doch kaum jemand wollte aus dem lukrativen Geschäft mit den Saudi aussteigen.

Auch an der zweiten Investorenkonferenz im selben Hotel 2018 wollten viele Wirtschaftsführer teilnehmen. Doch erst die globale Empörung über den Mord am Journalisten Khashoggi machte MBS einen Strich durch die Rechnung.

Donald Trump steht weiterhin stramm zu MBS. Zu wichtig sind dem US-Präsidenten die Waffenexporte nach Saudiarabien und die versprochenen Investitionen der Saudi in den USA. Auch sein Schwiegersohn Jared Kushner setzt in seinem Nahostfriedensplan auf MBS. Der Kronprinz, der sich in der Palästinafrage wenig auskennt, scheint dem Plan der Trump-Administration, der Israel sehr weit entgegenkommt und die Interessen der Palästinenser weitgehend übergeht, positiv gegenüberzustehen.

Als die Amerikaner ankündigten, ihre Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, wurde zuerst gemunkelt, dies hätte nicht ohne Zustimmung der Saudi erfolgen können. Kushner und MBS mögen darüber geredet haben. In diesem Fall widersprach der König aber seinem Sohn und liess verlauten, die Saudi seien mit diesem Schritt nicht einverstanden und stünden weiterhin zu den Prinzipien des vom früheren König Abdullah propagierten Friedensplans.

Kann ihn nichts aufhalten?

MBS bleibt trotzdem der mächtigste Mann in Riad. Die Regierungsumbildung, mit der König Salman diese Woche Konsequenzen aus dem Mordfall Khashoggi gezogen hat, ändert wenig daran. Vorerst hat MBS auch die Thronfolge für sich entschieden.

Ganz geregelt ist die Frage aber noch nicht, nicht zuletzt wegen der Imageprobleme, die der Kronprinz jetzt hat. Wenn sein Vater stirbt oder abdankt, wird der Familienrat nochmals zusammentreten und offiziell den nächsten König wählen. Dann besteht theoretisch die Möglichkeit einer Änderung in der Thronfolge.

Wenn Mohammed bin Salman selbst mit einem Mord vor den Augen der Weltöffentlichkeit davonkommt, dann gibt es wohl auch weiterhin nichts, was er nicht tun würde, um seine Macht zu sichern, um Kritiker auszuschalten und um seinen Einfluss in der Region geltend zu machen. Das könnte gefährlich werden. Denn der Kronprinz hat auch schon damit gedroht, dass er «den Kampf nach Iran tragen wolle». Ein direkter Konflikt des sunnitischen Saudiarabien mit dem schiitischen Erzfeind wäre aber in einer Grössenordnung, die weit über die bisherigen aussenpolitischen Abenteuer von MBS hinausgeht.

Toby Matthiesen ist Senior Research Fellow für Internationale Beziehungen des Nahen Ostens an der Universität Oxford und Autor mehrerer Bücher zur Golfregion.

Korrektur: In einer früheren Fassung stand, dass das Beratungsunternehmen McKinsey die “Vision 2030” erarbeitet habe. Dies ist laut McKinsey falsch. Der interne Think Tank der Beratungsfirma, das McKinsey Global Institute,  habe  zwar Ende 2015 eine grosse Studie zu Saudiarabien verfasst. Die Denkfabrik arbeite jedoch unabhängig und konsequent nicht im Auftragsverhältnis für Unternehmen, Regierungen oder Interessengruppen.