Spiel mit dem Feuer des Konfessionalismus

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Ein schiitischer Kleriker wurde zum Tode verurteilt, weil er gegen das Königshaus protestierte. Eine Terrorzelle des IS richtete darauf Schiiten hin. Der Fall zeigt das Scheitern der saudischen Religionspolitik.

In den letzten zwei Monaten haben zwei wichtige Ereignisse die problematische Situation der Schiiten in Saudiarabien sowie Saudiarabiens Religionspolitik ins Rampenlicht gerückt. Am 15. Oktober wurde der schiitische Kleriker Nimr al-Nimr in Riad zum Tode verurteilt , weil er eine Protestbewegung anführte, die seit Jahren mehr Rechte für die schiitische Minderheit einfordert. Das Urteil führte zu Demonstrationen in der ölreichen Ostprovinz des Landes und machte al-Nimr zu einer Galionsfigur für Schiiten auf der ganzen Welt.

Gesetz gegen Hasspredigten?

Zwei Wochen später, am 3. November, kurz vor Ashura – einem heiligen Fest für Schiiten, an welchem sie das Martyrium Imam Hussayns beklagen –, wurden sieben Schiiten, unter ihnen mehrere Kinder, vor einem Gebetshaus erschossen. Der Anschlag fand in dem Dorf Dalwa in der von Sunniten und Schiiten bewohnten Oase al-Ahsa statt. Trotz der üblichen Spannungen zwischen beiden Glaubensgemeinschaften war dies der erste konfessionalistisch motivierte Massenmord in Saudiarabien. Der saudische Geheimdienst behauptet, ähnliche Anschlagspläne gegen Schiiten bisher vereitelt zu haben.

Das Attentat erschütterte das Königreich. Viele Liberale, aber auch der Klerus und das politische Establishment verurteilten die Gewalttat. Hunderte Sunniten nahmen zusammen mit Schiiten an einem Massenbegräbnis in Dalwa teil. Der die Regierung beratende Shura-Rat schlug schliesslich ein Gesetz vor, welches rassistische und religiöse Hasspredigten unter Strafe stellt. In den folgenden Tagen führten Sicherheitskräfte Razzien im ganzen Land durch und verhafteten über siebzig Personen. Bei einer Schiesserei wurden zwei saudische Sicherheitskräfte, zwei weitere Saudi und ein Katarer getötet. Das Innenministerium erklärte daraufhin, dass die Attentäter vom Islamischen Staat (IS) angestiftet worden seien.

Saudiarabiens damaliger Informationsminister Abdulaziz Khoja kündigte zudem auf Twitter an, einen Fernsehsender, der für antischiitische Hasspredigten bekannt ist, zu schliessen. Seit langem hatte der Sender, Wisal, die Schiiten als Agenten Irans bezeichnet und sie zur Konversion zum Sunnitentum aufgefordert. Erstaunlicherweise wurde aber nicht der Sender abgestellt, sondern der Minister entlassen. Khoja, ein ehemaliger Botschafter in Libanon, kommt aus dem Hijaz und gilt als liberaler Intellektueller mit guten Beziehungen zum Königshaus. Sein Entschluss, den Hass-Sender abzustellen, stiess aber offenbar auf scharfe Kritik religiöser Kreise. Am 8. Dezember ernannte der König Abdulaziz al-Khediri, einen Konservativen aus dem Najd, zum neuen Informationsminister.

Saudiarabien hat sich in den letzten Jahren als Verteidiger der Sunniten in der Region positioniert. Die Regierung toleriert aus diesem Grund antischiitische Propaganda und will im gegenwärtigen Konflikt nicht als zu schiitenfreundlich angesehen werden. Die Todesstrafe gegen al-Nimr ist denn auch in diesem Kontext zu sehen Find phone , denn die Regierung will zeigen, dass sie nicht nur die sunnitischen Extremisten des IS, sondern auch die aufmüpfigen Schiiten mit harter Hand bestraft.

Sollte al-Nimr allerdings wirklich exekutiert werden, würde dies zu einem Aufflammen der Proteste in der Ostprovinz und in Bahrain sowie zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zwischen Saudiarabien und Iran führen. Schiiten auf der ganzen Welt sehen al-Nimr mittlerweile als einen Helden an. Vor allem für junge saudische Schiiten ist er mit seinen Predigten zu einem wichtigen Symbol geworden, da er die weitverbreitete, aber zumeist privat geäusserte Kritik an Riads Religionspolitik öffentlich ausspricht.

Der frühere iranische Staatspräsident Hashemi Rafsanjani, der sich seit langem um bessere Beziehungen zu den Golfstaaten bemüht, soll König Abdullah einen Brief geschrieben haben, in dem er diesen um die Begnadigung al-Nimrs ersucht. Seine Exekution würde auch schiitischen Radikalen in die Hände spielen, denn Organisationen wie der libanesische Hizbullah oder Irans Revolutionsgarden haben für den Fall einer Exekution al-Nimrs bereits mit Vergeltung gedroht.

Kein Wandel in Sicht

Obwohl der Anschlag in al-Ahsa das ganze Land schockiert hat, dürfte er nicht zu einem Umdenken in der saudischen Religionspolitik führen. Denn ebendiese konfessionalistische Politik ermöglichte es der Regierung, die Proteste der Schiiten in der Ostprovinz als eine subversive Bewegung darzustellen, mit der sich die sunnitische Mehrheit naturgemäss nicht solidarisiert. Zudem will sich das Königshaus weiterhin als Wortführer aller Sunniten gerieren. Als solcher gehört Saudiarabien zu den wichtigsten Financiers der syrischen Opposition und der Rebellen in den sunnitischen Provinzen des Iraks.

Dass nun viele dieser Rebellen zum Islamischen Staat übergelaufen sind und auch Saudiarabien angreifen wollen, stellt das Königreich vor ein Dilemma. Einerseits gibt es in der Bevölkerung gewisse Sympathien für den IS, wenngleich seine Brutalität viele abschreckt. Andererseits versucht sich Riad gegenüber dem Westen als unabdinglicher Partner in der Anti-IS-Koalition zu profilieren. Die Anschläge in Saudiarabien – neben den Schiiten wurden in den letzten Wochen mehrere Westler von IS-Sympathisanten angegriffen – geben der Regierung gute Argumente, um sich als Opfer der Jihadisten darzustellen.

Dass aber der saudische Wahhabismus der Ideologie des IS nahe steht und viele seiner Kämpfer aus Saudiarabien stammen, scheint Riad auszublenden. Mit mehreren tausend Kämpfern stellen die Saudi nach den Tunesiern die wichtigste ausländische Gruppe in den Reihen des IS. Und ebenjene antischiitische Propaganda, welche viele Jihadisten motivierte, in den Irak oder nach Syrien zu ziehen, um dort Schiiten zu töten, wird allen Ankündigungen zum Trotz weiter vom saudischen Fernsehen ausgestrahlt.

Toby Matthiesen ist Research Fellow an der Universität Cambridge. Sein Buch «The Other Saudis: Shiism, Dissent and Sectarianism» erscheint am 31. Dezember bei Cambridge University Press.

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/spiel-mit-dem-feuer-des-konfessionalismus-1.18448471