Der politische Konfessionalismus im Nahen Osten

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Die Hoffnungen, die viele in den «arabischen Frühling» setzten, werden von zwei Konfliktlinien zerstört: dem Zwist zwischen Säkularen und Islamisten und jenem zwischen Sunniten und Schiiten. Beide Konflikte sind identitätspolitische Konstrukte, und beide werden von den alten Regimen im Nahen Osten gezielt geschürt, um die Ideale der Revolutionen von Tunis und Kairo zu ersticken. Den ersten Konflikt heizen vor allem das Regime von Asad in Syrien, die Militärs in Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate an. Sie alle, und noch einige mehr (zum Beispiel die Saudi), haben in den Muslimbrüdern einen gemeinsamen Feind gefunden. Laut diesen Kritikern würden die Muslimbrüder, falls sie jemals für längere Zeit regieren könnten, die Region in den Abgrund führen. Die Militärs und die Vertreter des arabischen Nationalismus (und der Petromoderne am Golf) präsentieren sich als Bollwerk gegen den politischen Islam.

Der Aufstand in Bahrain

Die zweite Strategie, mit der vor allem die Monarchien am Golf und das Asad-Regime ihre Herrschaft zu verteidigen hoffen, ist die Schürung der konfessionellen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten sowie anderen religiösen Minderheiten wie den Alawiten, Drusen oder Christen. Der konfessionelle Zwist ist nur bedingt ein Kampf ums Dogma, eher geht es um politische Interessen, Geopolitik und den regionalen kalten Krieg zwischen Iran und einigen Golfstaaten, allen voran Saudiarabien. Es war die amerikanische Invasion im Irak 2003, die das regionale Gleichgewicht zwischen den Konfessionen, in dem arabische Sunniten über arabische Schiiten herrschten, durcheinandergebracht hat. Die irakischen Schiiten sind seither an der Macht, was ihre Glaubensgenossen in den umliegenden Staaten ermutigt und den Königsfamilien am Golf Angst vor einem Erstarken Irans und der Schiiten in den Golfstaaten eingejagt hat (in Kuwait stellen sie 30 Prozent der Bevölkerung, in Bahrain 65 Prozent, in Saudiarabien 10 bis 15 Prozent).

Am 14. Februar 2011 gingen Tausende von Bahrainern auf die Strasse, um für politische Reformen zu demonstrieren und den Perlenplatz zu besetzen. Die Mehrheit der Demonstranten waren Schiiten, aber es gab auch Sunniten, vor allem Linke, die sich mit den Protesten solidarisierten. Die Golf-Monarchen fürchteten, dass Bahrain zu einer Kettenreaktion führen könnte. Wenn die bahrainische Königsfamilie durch Druck von der Strasse zu Reformen gezwungen würde oder sogar fiele, dann könnten Bürger in den anderen Golfstaaten dasselbe verlangen. Die Hardliner in der bahrainischen und saudischen Königsfamilie (es gab auch andere, die auf eine Kompromisslösung hinarbeiteten) fanden, dass das naheliegende Gegenmittel zum Aufstand eine Politik des «Teilens und Herrschens» sei, wie sie schon von den Briten bis zur Dekolonialisierung Bahrains 1971 angewandt wurde. Und so wurde der Aufstand unter vollem Einsatz der vor allem saudischen Medienmacht zum hinterhältigen Komplott einer mit Iran verbündeten «fünften Kolonne» stilisiert. Bis heute darf in von den Golfstaaten kontrollierten Medien nicht anders über den Aufstand in Bahrain gesprochen werden. Die saudischen Truppen marschierten in Bahrain ein und schlugen den Aufstand nieder, Iran machte die «Bahrain-Revolution» zu einem Hauptthema in seinen staatlichen Medien. Die anti-schiitische Rhetorik in den Golfstaaten hatte zur Folge, dass sich die konfessionellen Spannungen in Kuwait und in Saudiarabien weiter verschärften. Die Golfstaaten schafften auch Hunderte von libanesischen Schiiten aus, die der Kooperation mit dem Hizbullah bezichtigt wurden.

Anti-schiitische Propaganda

Als sich der Aufstand in Syrien in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 ausbreitete, benutzte das Regime eine ähnliche Rhetorik, nur ging es diesmal darum, die religiösen Minderheiten gegenüber einer angeblich rein sunnitischen und jihadistischen Opposition zu vereinen. Diese Behauptungen stimmten nur zum Teil, und weder in Syrien noch in Bahrain waren die Oppositionsbewegungen zu Beginn konfessionell homogen. Aber als die Gewalt eskalierte und auf allen Kanälen der heilige Krieg gegen diese oder jene Sekte gepredigt wurde, entwickelte sich dieser konfessionelle Krieg zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dass die libanesische Schiitenmiliz Hizbullah nun massiv im Bürgerkrieg in Syrien mitmischt, erleichtert die Propagandaschlacht für Schiiten-Gegner.

Die Rolle der Golfstaaten im «arabischen Frühling» wird oft entweder vernachlässigt oder übertrieben. Fast jeder Golfstaat verfolgt eine andere Politik gegenüber den Revolutionen in der Region. Ihnen allen gemeinsam (mit Ausnahme von Oman und teilweise Kuwait) ist eine zumindest implizite anti-schiitische Haltung, die im Fall von Bahrain und Saudiarabien offen den konfessionellen Bürgerkrieg in der Region anheizt. Dieser Konflikt eskaliert im Moment und erstreckt sich nicht mehr nur auf Syrien und den Irak, sondern greift immer mehr auf Libanon über. Auch in Ägypten wurden Schiiten gelyncht, und in Jemen wird der Konflikt mit den Huthi-Rebellen im Norden konfessionell erklärt. Die alten Regime können mit diesem konfessionellen Bürgerkrieg leben, in manchen Fällen sichert er ihnen sogar das Überleben. Iran und Saudiarabien sind gut auf ihre selbst kreierten Rollen als Schutzmächte der Schiiten bzw. Sunniten eingespielt. Statt mit aller Kraft eine internationale Lösung des Syrien-Konflikts zu erwirken und eine Verhandlungslösung mit Iran anzustreben, tragen Amerika, Europa und Russland zu einer Verschärfung der konfessionellen Spannungen in der Region bei. Das Leid tragen die Opfer der Autobomben, der flächendeckenden Bombardierungen, der ethnischen Säuberungen und der Folterknechte.

Toby Matthiesen ist Research Fellow in Islamic and Middle Eastern Studies an der Universität Cambridge. Sein Buch «Sectarian Gulf: Bahrain, Saudi Arabia, and the Arab Spring That Wasn’t» ist soeben bei Stanford University Press erschienen.

http://www.nzz.ch/meinung/uebersicht/der-politische-konfessionalismus-im-nahen-osten-1.18136807#